4 Faktoren für mehr Resilienz

 

 

"Die Überlebenschancen der Menschheit

waren wesentlich besser,

als wir noch wehrlos gegenüber Tigern waren,

als sie heute sind, wo wir wehrlos gegen

uns selbst geworden sind."

 
(Arnold J. Toynbee, 1889-1975

Britischer Historiker und Philosoph)

 

 

 

In meinem letzten Newsletter habe ich über „Unser verflixtes Denken“ geschrieben und wie sehr unser Denken unser (Er-) Leben bestimmt. Mentale Stärke ist eine Form von Resilienz, die wir gerade jetzt gut gebrauchen könnten. Corona hat uns aus unserer gewohnten Hängematte geworfen und 12 Monate später fragen sich immer mehr Menschen:
„Wie soll ich das nur durchhalten, Monat für Monat, wenn nichts vorwärts geht? Wann werde ich jemals wieder zur Normalität zurückkehren?“

 

Wenn Sie sich das Gleiche fragen - hier ist meine Antwort: Das werden Sie nicht mehr!

Die Normalität, an die Sie sich erinnern, ist für immer vorbei. Und das ist in Ordnung so. Es ist im Grunde wie mit alten Fotos aus dem Familien Album: Sie erkennen sich noch, aber Sie sind das nicht mehr. Nur, dass der Wandel bisher schleichend war und er jetzt ziemlich abrupt eingetreten ist.

 

Wenn wir jedoch nur auf das schauen, was uns die Pandemie genommen hat, werden wir Schwierigkeiten haben, uns auf etwas anderes als den Verlust zu konzentrieren. Jede Krise aktiviert nämlich auch unsere Überlebensfähigkeiten, d.h. eine Art von Anpassungsreaktionen, die uns helfen, körperlich und geistig damit fertig zu werden. 

 

Durch die Pandemie haben wir alle den vertrauten Rhythmus der Aktivitäten verloren, der einst unsere Zeit ausfüllte und der unserem Leben einen Rahmen gab. Stattdessen gibt es Home-Schooling, Home-Office, Kontaktbeschränkungen, Maskenpflicht, Ausgangssperre, verzögerte Impfungen, finanzielle Notlagen und eine Lockdownverlängerung nach der anderen. Es kommt Schlag auf Schlag. Und täglich gibt es neue Aufgaben und Probleme. Und die Krankheit selbst kann schlimme Folgen haben, selbst für diejenigen, die überleben.

 

"Das Chaos von heute ist nur der Beginn einer höheren Ordnung,
die wir jetzt noch nicht verstehen."

(Veit Lindau)

 

Es ist als ob unsere Gesellschaft in ein kollektives Start-Up verwandelt wurde, indem es noch keine verlässlichen Strukturen und Lösungen gibt. Jeder Tag muss mit Behelfsmaßnahmen bewältigt werden und die Angst, doch noch Konkurs anmelden zu müssen, wächst.

 

Bis jetzt halten wir einigermaßen durch, doch unsere Kapazität zum Aufladen ist irgendwann erschöpft und die Gefahr besteht, in eine angstbesetzte Depression zu verfallen. Je nachdem, wie wir auf unsere Erschöpfung reagieren, könnten wir in einer Art apathischer Verzweiflung versinken oder uns in etwas verwandeln lassen, das über unser früheres Selbst hinausgeht.

 

Die Richtung, die wir ab jetzt einschlagen, hängt davon ab, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten.

 

 

 

"Kulturen blühen auf, wenn auf Fragen von heute
Antworten von Morgen gegeben werden.

Kulturen zerfallen, wenn für Probleme von heute
Antworten von gestern gegeben werden.”

(Arnold J. Toynbee)

 

 

 

 

 

Wenn Sie sich Bilder Ihres früheren Selbst ansehen, klammern Sie sich vielleicht an die Hoffnung, in Ihr altes Leben zurückzukehren. Aber das ist vermutlich ein Rezept für Frustration. Wenn Sie dies vermeiden wollen, dann lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit weg von dem, was vergangen ist und konzentrieren Sie sich auf das, was gerade im Werden begriffen ist. Sie haben es vielleicht noch nicht bemerkt, aber während dieser vergangenen Monate werden Sie selbst paradoxerweise sowohl weniger als Sie einmal waren, als auch viel, viel mehr.

 

Das, was Ihnen wichtig ist, hat sich möglicherweise geändert. Sie kommen vielleicht mit viel weniger aus als bisher. Vielleicht stellen Sie auch fest, dass Sie flexibler sind als vor 2020: Sie mussten schwierige Probleme lösen, unter restriktiveren Umständen arbeiten, mehr Hindernisse bewältigen und waren mehr auf sich selbst geworfen als sonst.

 

Wenn Sie akzeptieren, dass die Pandemie unsere Welt verändert, wenn Sie zulassen können, dass der Wandel auch Sie verändert, dann könnte 2021 das Jahr werden, das Sie in eine weisere, ruhigere, stärkere Version von sich selbst verwandelt.

 

Wenn wir uns aber von den Verlusten, die durch die Pandemie entstanden sind, erholen wollen, brauchen wir schonungslose Ehrlichkeit gegenüber der Situation, in der wir uns befinden. Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass ein winziges Virus - etwas, das wir nicht einmal sehen können - in vielerlei Hinsicht stärker ist als wir selbst. Viele Menschen bagatellisieren die Bedeutung des Virus, aber die Wissenschaftler sagen uns, dass dies ein großer Fehler ist.

Das Bewusstsein unserer eigenen Verwundbarkeit, so unangenehm sie auch sein mag, ist ein absolut notwendiger erster Schritt, um eine Strategie zu entwickeln, mit der wir letzlich jeden mächtigen Gegner bekämpfen können.

 

 

 

  „Als menschliche Wesen sind wir ausgestattet

mit der Freiheit der Wahl,

und wir können unsere Verantwortung

nicht auf Gott oder die Natur abschieben.

Wir müssen sie selbst auf uns nehmen.“

(Arnold J. Toynbee)

 

 

 

 

Um inmitten einer globalen Pandemie Resilienz aufzubauen und zu nutzen, müssen wir uns das ganze System  - und damit 4 Faktoren anschauen:

 

 

1. Persönliche Faktoren

 

Vor allem der Einzelne ist seit dem ersten Lockdown gefragt, wie er sich unter diesen Umständen organisiert und mit den Einschränkungen zurechtkommt. Wer den Marathon laufen will, braucht aber vor allem diese 4 Faktoren: Ehrlichkeit sich selbst gegenüber, Demut hinsichtlich der Realität, Flexibilität bzgl. den Anforderungen und Geduld mit der Situation.

 

a. Erstens: Ehrlichkeit. Beginnen Sie damit, Ihre eigene Widerstandsfähigkeit zu erhöhen, indem Sie Ihre Schwachstellen ehrlich anerkennen. Wenn Sie oder jemand in Ihrer Familie zum Beispiel zu einer Hochrisikogruppe gehören, erlauben Sie sich, dies zu akzeptieren. Mit welchen Faktoren sind Sie konfrontiert, die Sie einer Krankheit aussetzen oder Sie zu einem möglichen Überträger machen könnten? Womit überfordern Sie sich regelmäßig? Ehrlichkeit - vor allem in Bezug auf unsere eigene Schwäche - ist eine notwendige Grundlage für Resilienz. Weil wir uns nur dann die richtigen Maßnahmen und Hilfen ermöglichen können.

 

b. Die zweite Komponente: Demut. Bei Resilienz geht es nicht darum, gut auszusehen. Ja, man sieht lächerlich aus mit Maske und die Sicherheitsrichtlinien schränken uns in unserer Selbstbestimmung ein. Und alleine zu Hause sitzen zu müssen macht uns wirklich bedürftig. Resilienz erfordert, dass wir uns vor diesen Realitäten demütigen. Wir müssen uns schwächer zeigen als unser Gegner (die Pandemie), weil wir schwächer sind als unser Gegner. Aber Demut macht uns nicht schwach. Sie macht uns widerstandsfähig. Weil sie eine Einsicht in die Notwendigkeit ist und sich mutig den Gegebenheiten stellt. Wir schützen uns, wir halten uns zurück, wir warten ab. Es ist eine Taktik, die auch schon Muhammed Ali,  der sonst eher darauf bestand der Größte zu sein, zum legendären Sieg gegen George Foreman verholfen hat. Er hat solange demütig die Schläge seines stärkeren Gegners eingesteckt, bis dieser ermüdet war. Erst dann hat er zurück geschlagen.

 

c. Drittens, Flexibilität. Wenn Sie sich ein Video von einem springenden Ball in Zeitlupe ansehen, werden Sie sehen, dass er beim Aufprall auf den Boden flach und zusammengedrückt wird. In diesem Moment ist er keine schöne, perfekte Kugel. Aber die Flexibilität, die es ihm erlaubt, abgeflacht zu werden, gibt ihm die Kraft, in seine ursprüngliche Form zurück zu federn und sich selbst in die Luft zu werfen, indem er genau die gleiche Kraft nutzt, die ihn zu Boden gebracht hat.

Genauso verlangen Krisen Flexibilität von uns, um nach vorne zu springen: Verzicht auf das Gewohnte, Pläne loslassen, spielerischer Umgang mit Chaos und Ungewissheit. Wenn wir mit dem Leben mitgehen, stärkt uns das. Widerstand gegen das Leben ist nur Angst und blockiert uns. Mitgehen entspannt und bringt uns wieder in den Fluß.

 

Tipp: Wenn Ihr innerer Nörgler sich immer wieder über diese Zumutungen aufregt, dann können Sie ihm Einhalt gebieten, in dem Sie in etwa folgendes sagen: "Stimmt, so ist es gerade. Na und?"

 

d. Und viertens: Geduld. Auf den richtigen Moment warten. Wenn der Gegner beginnt zu schwächeln. Darauf, dass sich eine Tür öffnet, sich die Wellen legen, das Blatt sich wendet, man wieder klar sieht. Geduld erfordert eine spielerische Haltung, d.h. offen bleiben für das, was kommt. Und das bedeutet nicht einfach zu warten, sondern sich voll und ganz auf das Jetzt einzulassen. Seit dem ersten Shutdown haben viele Menschen ungewöhnliche Projekte begonnen, oder ihre Wohnung renoviert, Online Treffen mit alten Freunden organisiert oder ihre künstlerischen Fähigkeiten intensiviert. Das hat ihnen die Kraft gegeben, das hier und jetzt zu gestalten und auch den nächsten und übernächsten Lockdown zu meistern, anstatt zu verzweifeln. Das Abgeschnittensein von anderen gibt uns die Chance, uns mehr auf uns selbst und unseren Fähigkeiten zu besinnen. Eigentlich eine interessante Idee, oder?

 

2. Medizinische Faktoren

 

Die medizinischen Faktoren spielen in der Pandemie natürlich eine ganz zentrale Rolle. Zum einen leisten Mediziner und Pfleger Enormes seit Ausbruch der Pandemie.

 

An vielen Universitäten und Unternehmen wird mit Hochdruck geforscht, so dass bereits mehrere Firmen ihre Impfstoffe zulassen konnten.

Auch die Versorgung mit Informationen und Produkten wie Masken und Desinfektionsmitteln lief erstaunlich rasch bei uns an.

 

 

Dennoch werden auch hier, wie bei der Bereitstellung des Impfstoffs, überall Lücken offensichtlich, die in Zukunft geschlossen werden können und müssen. Denn jetzt ist es erst einmal wichtig, dass alle Länder zügig Zugang zu Impfstoffen haben, damit wir die Pandemie gemeinsam in den Griff bekommen.

 

Einmal mehr macht sich bemerkbar, dass wir zwar Individuen sind und unterschiedlichen Staaten angehören, aber nicht unabhängig voneinander sind. Manche würden sogar sagen, wir sind eins. Die Welt ist zumindest durch die Globalisierung und digitalen Vernetzung so klein geworden, dass wir merken: Wir sitzen alle im selben Boot.

 

3. Wirtschaftliche Faktoren

 

Bei allem Hype um Lean-Management und globalen Effizienzgedanken – in Zeiten der Krise fehlen plötzlich die Redundanzen, wenn der Nachschub aus anderen Ländern ausbleibt oder die Belegschaft erkrankt ist. Umstrukturierungen haben schmerzlich gezeigt, dass kleine, dezentrale Organisationen nachweislich besser sind in der Anpassung, da sie sich schneller selbst organisieren können.

Und die Möglichkeiten „remote“ zu arbeiten und die damit verbundene Digitalisierung hat zu einem Modernisierungsschub in vielen Unternehmen geführt. Manche konnten auch beobachten, wie gut sich Teams gefunden haben, ohne dass ein Vorgesetzter "beim Arbeiten stört", weil das vom Home Office aus schwerer ist. Dies könnte zu einem generellen Umdenken in Firmen führen, wieviel Bürofläche oder wozu es Führungskräfte braucht. Schon bekommen agilere Strukturen Rückenwind. Aber der Lockdown hat auch gezeigt, wie schnell Unternehmen am Ende sein können. Wie robust sind unsere wirtschaftlichen Strukturen also wirklich? Investieren wir in tote Pferde oder bilden wir neue aus? Was können wir daraus lernen?

 

4. Politische Faktoren

 

Und last but not least - was kann die Politik tun, um Gemeinsinn und Solidarität zu stärken? Wie wäre es mit einer Anhebung des Kurzarbeitergelds oder mit einer Umwandlung von Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse? Wie könnten die versprochenen Hilfen für Selbständige schneller und gerechter verteilt werden? Kredite einfacher gegeben oder Arbeitslosenunterstützung ausgeweitet werden? Wie sieht es überhaupt mit einer Grundsicherung aus?

Das sind Faktoren, die zumindest in Deutschland in einem Wahljahr von erheblicher Bedeutung sein werden, denn dann hätten vielleicht mehr Menschen die Möglichkeit, den Lockdown gut zu überstehen und den Blick wieder auf das Positive im Leben zu lenken. Klug wäre es auch, wenn die Politiker aus den Versäumnissen lernen und die Weichen neu stellen würden, anstatt sich auf "Finger Pointing" zu beschränken.

 

Zumal ja noch Themen wie Klimawandel und Überbevölkerung auf uns warten... Insofern ist das Virus vielleicht ein gutes Training für den Umgang mit künftigen Krisen?

 

So oder so, wir haben viel durch diese Pandemie verloren. Dies zuzugeben und das loszulassen, was wir uns erhofft haben, andere sehen zu lassen, dass es uns etwas ausmacht und wir erschöpft sind, und trotzdem die Geduld zu haben, zu akzeptieren, was auch immer als Nächstes passiert, wird nicht nur das Virus besiegen. Es wird uns zu besseren Menschen machen. Ruhiger. Mitfühlender. Aufmerksamer. Kurz gesagt, widerstandsfähiger.

 

Ich wünsche Ihnen - und uns allen - eine neue Stärke und Gemeinschaft, um die Herausforderungen zu meistern.

Denken Sie daran: Sie sind nicht allein.

 

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Kommentare: 3
  • #1

    Heidi Wahl (Dienstag, 02 Februar 2021 18:56)

    Liebe Anja,

    spitzenmäßig auf den Punkt gebracht und analysiert. Und ich bin froh, so eine Kollegin wie dich zu kennen mit so klugen Gedanken. Ich teile deine Einschätzung und glaube auch, dass wir noch eine Zeitlang Mut, Zuversicht, Ausdauer und vor allem Geduld benötigen. Spaß haben geht aber trotzdem. Eingeschränkt, anders als sonst. Man muss erfinderisch sein. Ich gehe so oft wie möglich raus, in die Natur. Das hilft mir ungemein mich zu erden. Im wahrsten Sinne des Wortes.

  • #2

    Anja (Mittwoch, 03 Februar 2021 09:05)

    Liebe Heidi,
    Danke, für Dein tolles Feedback! Deine Fröhlichkeit ist immer zu spüren :-) und Deine Fotos, wenn Du unterwegs in der Natur bist, sehe ich immer gerne an. Ja die Natur kann so schön und tröstlich für uns sein!

  • #3

    Harald (Montag, 08 Februar 2021 10:23)

    Hallo Anja,

    zwei Text-Stellen sind mir aufgefallen:
    1. "Das Bewusstsein unserer eigenen Verwundbarkeit, so unangenehm sie auch sein mag, ist ein absolut notwendiger erster Schritt, um eine Strategie zu entwickeln, mit der wir letzlich jeden mächtigen Gegner bekämpfen können."
    2. "Wir müssen uns schwächer zeigen als unser Gegner (die Pandemie), weil wir schwächer sind als unser Gegner."

    Es gefällt mir, wie Du die Stärke der Schwäche siehst.

    Beste Grüße

    Harald